Seit Februar 2022 herrscht wieder Krieg in Europa. Eine durchwegs unangenehme Tatsache, die auch dazu führt, Menschen und Meinungen zu polarisieren. Nicht umsonst heißt es bekanntlich auch „Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit“.
Ich möchte dazu ein Beispiel geben: Wer auf X (vormals Twitter) einigen russischen Accounts, sowohl offiziellen als auch inoffiziellen Videobloggern oder Militärjournalisten, folgt, wird feststellen, dass das russische Narrativ davon geprägt ist, die Ukraine zu „denazifizieren“. Dies ist insofern interessant, da die Ukraine zwar Austragungsort wesentlicher Kriegshandlungen im Zweiten Weltkrieg war (siehe Schlacht bei Kiew 1941, oder Charkow 1943 sowie auch Kursk im selben Jahr), doch mit dessen Ende eine „Denazifizierung“ der Ukraine de facto bereits festgestellt werden konnte.
Es stellt sich daher die Frage, warum nun Russlands Präsident Putin diese Wortwahl getroffen hat. Der Krieg mit und der Sieg über das Deutsche Reich werden in der russischen Kultur auch als der „Große vaterländische Krieg“ bezeichnet. Ein Kraftakt der sowjetischen Bevölkerung, die es alleine schaffte, das nationalsozialistische Deutschland in die Knie zu zwingen. Wiewohl es ohne den Lend-Lease-Act mit den USA nicht möglich gewesen wäre, dies zu schaffen, herrscht in der russischen Kultur die Meinung vor, dass es die Sowjetunion war, die Nazi-Deutschland besiegt und somit den Frieden geschaffen hat.
Was danach passierte, muss nicht im Detail ausgeführt werden. Zuerst kam das Ende des Zweiten Weltkriegs, danach gab es Blockstaaten und in weiterer Folge eine bipolare Weltordnung.
Es folgte der Zerfall der UdSSR und somit der Verlust der nun nicht mehr sowjetischen, sondern russischen Einflusssphären. Nachdem diese Zeit für Russland strategisch ungünstig war, liegt es auf der Hand, dass es auch heute noch ein Interesse gibt, die eigene Einflusssphäre aufrechtzuerhalten oder auch zu erweitern. Dies funktionierte in Tschetschenien, 2014 auf der Krim und auch derzeit in Afrika.
Russland muss also die Ukraine denazifizieren, weil es im russischen Narrativ den Anschein machen soll, als ob die Ukraine aus Nationalsozialisten bestünde. Daher seien Russland bzw. die Sowjetunion quasi historisch dazu verpflichtet, die ukrainische Bevölkerung vom Joch der nationalsozialistischen Tyrannei zu befreien.
Dies führt daher zu folgender Botschaft: „Nazis zu töten ist weder verwerflich noch falsch. Es ist die Pflicht eines jeden tüchtigen russischen Staatsbürgers, da es um die Verteidigung unserer (sowjetischen) Werte geht“. Aus diesem Narrativ heraus müssen auch die Massaker in Butscha betrachtet werden. Aus russischer Sicht wurde hier kein Verbrechen begangen, sondern nur getan, was notwendig war.
Der Mensch rückte damit in den Hintergrund, er wurde entmenschlicht und ist nur noch „Nazi“. Geschichtlich kann dazu auch als Vergleich die strukturierte Vernichtung der Juden in Polen durch die Polizeibataillone herangezogen werden. Dazu gibt es ein hervorragendes Buch, welches das Verhalten der Täter beschreibt: „Ganz normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen“ von Christopher R. Browning. Alternativ kann auch der Film „Das radikale Böse“ von Stefan Ruzowitzky als Beispiel herangezogen werden, der die Tagebücher verfilmte und den Verfall der Polizisten darstellte.
Im Wesentlichen können dabei drei Bedingungen für destruktive Handlungen festgelegt werden: Diese sind die Deindividuation durch Gruppendruck, die Beschaffenheit der Persönlichkeit der Täter sowie die Feindbilderzeugung durch selektive Identifikation wie etwa Kriegspropaganda.
Die Deindividuation durch Gruppendruck wird durch das Handeln des Kollektivs erzeugt. Eine Truppe die nicht moralisch agiert und ein Kommandant der Fehlverhalten zulässt, unterstützen diese Bedingung. Die Beschaffenheit der Persönlichkeit ist höchst individuell und hängt im Wesentlichen von der Wertehaltung der handelnden Personen ab. Die Feindbilderzeugung und selektive Identifikation ist das bereits oben angesprochene Narrativ.
Doch ähnlich verhält es sich leider auch auf der ukrainischen Seite. Seit Beginn des Krieges arbeitet auch die Ukraine, bewusst oder unbewusst, am Prozess der Entmenschlichung.
Die russischen Soldaten werden als „Orks“ bezeichnet. Der Begriff „Ork“ ist spätestens seit der Verfilmung des „Herr der Ringe"-Epos auch in der breiten Masse bekannt. Es sind die Schergen Saurons (des Bösen), die die Heldengruppe ohne moralische Bedenken töten und abschlachten können. Es ist jedoch genau dieses Narrativ, das zeigt, dass der Mensch nicht mehr Mensch, sondern ein deindividualisiertes Wesen ist. Selbstverständlich ist die Ukraine in dieser Diktion das Gute und sie stilisieren sich selbst als Helden.
Auf X (vormals Twitter) häufen sich seit Beginn des Krieges Videos in denen die ukrainische Armee mit Drohnen russische Soldaten filmt. Dabei werfen sie Granaten auf sie ab. Diese Kurzfilme sind brutal und zeigen, wie Drohnen dazu genutzt werden, um am Gefechtsfeld einen Vorteil zu erlangen. Die Videos scheinen anfangs nicht verwerflich, obwohl der gefilmte Tötungsakt bereits zur Verrohung des Menschen beiträgt. Zum Problem wird es jedoch, wenn sich die verwundeten russischen Soldaten am Video sichtlich ergeben.
Sie erlangen durch die Aufgabe der Kampfhandlungen dabei gemäß der Genfer Konvention (Schutz der Opfer des Krieges) und dem Haager Recht, auch Haager Landkriegsordnung genannt, einen Schutzstatus und dürfen nicht mehr bekämpft werden.
Dennoch werden Videos gezeigt, in denen russische Soldaten, die sich bereits ergeben haben, weiter bekämpft werden. Hier ist festzuhalten, dass es sich dabei um ein Kriegsverbrechen handelt.
In den Sozialen Medien wird dieser Fakt jedoch durch Meinungen überschattet. Prinzipiell sollten Fakten über Meinungen stehen; doch dies ist hier nicht der Fall. Es sind Meinungen die bereits durch das ukrainische Narrativ beeinflusst wurden, daher ist hier besondere Vorsicht geboten. Denn es steht außer Frage, dass Russland einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat.
Ebenso steht es außer Frage, dass die Ukraine das Recht hat sich selbst zu verteidigen. Ob die Ukraine westliche Werte damit verteidigt, wenn sie Kriegsverbrechen durchführt und filmt, ist jedoch äußerst fraglich. Dennoch ändert dies nichts an der Tatsache, dass sie immer noch das Recht besitzt, sich gegen einen Angreifer zu verteidigen. Die Deindividuation durch Gruppendruck sowie die Beschaffenheit der Persönlichkeit bleiben davon unverändert.
Die Feindbilderzeugung und selektive Identifikation sind im Wesentlichen ähnlich. Aus ukrainischer Sicht ist der Begriff „Nazi“ durch „Ork“ ersetzt worden.
Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass die Sprache ein mächtiges Werkzeug ist. Die Verrohung des Menschen und die Entmenschlichung beginnen dabei im Kopf der Individuen. Ein Mensch ist Mensch und bleibt Mensch, auch wenn gewisse Personen fehlgeleitet sind und unter fragwürdigen Motiven handeln.
Es bleibt zu hoffen, dass die Ukraine diesen Fehler erkannt hat und sich in Zukunft auch an die „Gesetze des Kriegs“ hält. Besonders die Soldaten und Kommandanten der ukrainischen Streitkräfte müssen daher im Umgang in humanitärem Völkerrecht geschult werden. Zuletzt bleibt zu hoffen, dass Russland vom Plan, die Ukraine zu „denazifizieren“ endlich abgeht und sich zurückzieht.
Dies ist aus derzeitiger Sicht jedoch unwahrscheinlich.